Phoenix, Mte. Popera (2964 m), WI5+, M6, 450 m, Hochbrunnerschneide-N-Wand, Sextener Dolomiten
Simon Gietl & Andrea Oberbacher eröffneten diese schöne und schwierige Route zum Jahresende 2020. Bereits am Tag nach der Erkundungstour (mit Martin Niederkofler und Florian Harrasser) startete Simon mit dem Bergführer Andrea Ober-bacher aus Kolfuschg bei klirrenden -16 Grad um 4:30 Uhr in Sexten. Nach circa drei Stunden Zustieg standen die beiden am Wandfuß. Eine 400 m lange Traverse führte zum Einstieg der beachtlichen Eislinie.
„Die ersten Meter gestalteten sich unkompli-zierter als gedacht“, berichtet Simon. „Die Sicherungsmöglichkeiten waren das Prob-lem. Wir konnten in der gesamten Tour nur eine Handvoll Eisschrauben setzen. Glücklicherweise gelang es, die langen Runouts mit Placements im Felsen etwas zu entschärfen.“ Die Stände wurden mit Normalhaken, Friends oder an Sanduhren eingerichtet. Sechs lange Seillängen führten zu einem steilen Schneekanal hinauf (etwa 100 Meter lang und technisch bedeutend einfacher als die Eiskletterei davor). Heikler Pulverschnee und zahlreiche Spindrifts forderten die Konzentration in der anstrengenden Kletterei.
Um 14:40 Uhr gelangten Simon und Andrea aufs Gipfelplateau der Hochbrunnerschnei-de. Nach dem Abseilen entlang der Aufstiegsroute an Abalakov-Sanduhren und den zu-vor eingerichteten Standplätzen ging es um 17 Uhr mit den Skiern zurück nach Sexten. „Die Route ist wirklich fantastisch“, schwärmt Gietl. „Zudem war es ein schönes Geschenk zum Jahresende. Nach heftigen Schneefällen ist aber die Lawinensituation zu heikel. Der ausgesetzte und steile Zustieg zum Wandfuß sollte nur bei sicheren Konditionen ins Auge gefasst werden.“ Bereits einige Jahre vorher wurde diese Route von einer einheimi-schen Seilschaft probiert, aber wegen ungünstiger Bedingungen abgebrochen.
Erstbegeher: Simon Gietl und Andrea Oberbacher am 31. 12. 2020
Ausrüstung: 2 x 60 m Seil, Eisausrüstung, Tourenski für den Zu- und Abstieg.
Absicherung: Alpin
Zustieg: Zum Rifugio Lunelli (1568 m), weiter zum Rifugio Berti (1950 m). Man folgt der gleichmäßigen Talmulde in Richtung Sentinellascharte bis man links die Wand sieht.
Höhe Einstieg: 2350 m
Abstieg: Abseilen über die Route und mit Skiern retour.
Infos: www.simongietl.it; www.bergsteigen.com;
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„Sorejina” (Sonnentochter), WI 5+, M6, 50°, 700 bis 800 m,
Südwestwand Sennesspitze
Eigentlich wollten die beiden Südtiroler Brüder Simon und Manuel Gietl nur einen steilen Kamin, den Manuel vor einigen Jahren bei einer Erstbegehung einer alpinen Sportklet-terroute erblickt hatte, genauer begut-achten. Dieser war damals noch im April mit großen imposanten Eiszapfen bestückt. Doch Simon und Manuel wur-den am 10. 1. enttäuscht. Kaum Eis und links davon gab es nur eine extrem dünne Eisauflage. Nun musste ein Plan B her. Simon entdeckte knappe hundert Höhen-meter weiter westlich ein steiles eisiges Couloir. „Dieser Plan B sollte uns mehr als ent-schädigen. Wir entschieden uns einzusteigen und einfach mal zu schauen.“ Die Kletterei gestaltete sich anspruchsvoll aber sehr genussreich. In der dritten Länge erwartete sie eine ziemlich heikle steile Eislänge, die je nach Eisbeschaffenheit sicherlich nicht zu unterschätzen ist. Nach knappen 150 Metern ließen die Schwierigkeiten nach. Auf anstrengendes Gestapfe im steilen Schneefeld kletterten sie (immer logisch) einen steilen Eisschlauch hoch, der sehr genussvolle Eiskletterei bot. Doch sollte beachtet werden, dass diese Eislängen bereits zur Mittagszeit Sonne bekommen und ihre Konsistenz darunter stark leidet.
Von dort seilten sich die beiden vorerst zurück hinunter zum Wandfuß und entschieden sich am nächsten Tag zu sehr früher Stunde zurückzukehren und die gesamte Wand „durchzudrücken“. Am zweiten Tag erreichten sie den Umkehrpunkt des Vortages bereits um 10 Uhr vormittags. Nach weiteren anstrengenden 100 bis 150 Metern im steilen Schnee kletterten sie über zwei gemischte Seillängen bis zum Wandfuß der imposanten Abschlusswand der Sennespitze, wo sie nach rechts querten. Zum Ab-schluss erwarteten die beiden Brüder noch drei tolle kombinierte Seillängen.
Nach knappen 7,5 h erreichten sie die Sennes-Hochebene. Der Kontrast hätte nicht größer sein können. Nach steilen, eisigen und schattigen Stunden standen sie auf dem sonnigen flachen Hochplateau. Erfreut fielen sie einander in die Arme, wünschten sich gegenseitig ein herzhaftes Berg Heil und genossen den überwältigenden Ausblick. An der Senneshütte vorbei stapften sie nach Pederü hinunter und auf der Straße zurück zum Auto. Dort zeigte das Thermometer um 17:30 Uhr exakt dieselbe Temperatur an wie beim Start um 5:15 Uhr: -23,5°. „Ein Strahl ist viel Sonne …“, meinte Simon.
Charakter: abwechslungsreiche kombinierte Tour entlang einer logi-schen Linie; Steileis, anstrengendes Schneegestapfe, delikate Kletterei auf tw. heiklem Felsen. Frühaufste-her und Kälteliebhaber werden im Hochwinter bei akzeptabler Lawi-nensituation mit den besten Bedin-gungen belohnt.
Absicherung: Einige Standplätze sind mit Normalhaken und Sanduh-ren eingerichtet, sonst ist für die Standplatzeinrichtung u. Zwischen-sicherung Eigeninitiative gefragt. Vereinzelt stecken auch Zwischen-haken (oberer Teil).
Einstieg: 46.662658, 12.012503
Zustieg: Vom Parkplatz Tamersc Talboden in nordwestl. Richtung in einen breiten Bachgraben queren. Denselben Richtung Norden zu einer steilen Felswand. Diese nach Westen am Wandfuß queren und direkt hin zum Einstieg (steiles Couloir), ca. 1 h. Zustieg mit Skiern empfehlenswert.
Abstieg: Am Sennes Hochplateau angekommen entweder delikat über die Route abseilen oder anstrengend über die Hochebene Richtung Osten stapfen (Sennes Alm). Von dort zur Sennes Hütte und über breiten gebahnten Weg nach Pederü absteigen. Nun gemütlicher Cooldown-Spaziergang entlang der Fahrstraße zurück zum Ausgangspunkt (2 bis 3 h).
Material: umfangreiches Sortiment Friends und Haken, Hammer, 10 bis 12 Eischrauben (auch kurze), Doppelseile.
Erstbegeher: Simon & Manuel Gietl am 10. und 11. 1. 2021
Infos: www.simongietl.it
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„DOGMA” M8, WI6, Erstbegehung in Rein in Taufers
Wenn die Temperaturen sinken und sich langsam eindrucksvolle Eisgebil-de formen, freut es mich jeden Winter aufs Neue, Ausschau nach unentdeck-ten Linien zu halten. Eine davon hatte ich bereits seit Jahren immer wieder beobachtet. Sie formte sich allerdings jedes Jahr recht ungleichmäßig und bis zum heurigen Winter erschien mir ein Kletterversuch stets zu heikel, da der Zapfen abzubrechen schien. Auch Mitte Dezember wollte ich die Route versuchen, doch klare, sonnige Tage vereitelten mein Vorhaben. Die Linie ist südseitig ausgerichtet. Um die Mittagszeit scheint die Sonne erbar-mungslos auf den steilen Ausstiegs-zapfen. Er brach ab. Ich hoffte also weiterhin auf passende Wetterprognosen.
Am 29. Jänner 2021 sollte es dann endlich soweit sein. Bewölkt, kalt und höchstwahr-scheinlich kein einziger Sonnenstrahl – ideale Bedingungen für die Route. Der Eisvorhang war wieder nachgewachsen und erschien ausreichend stabil zu sein. Mein Bergführer-Kollege Mark Oberlechner war mein motivierter Partner. Die ersten Seillängen hatten wir rasch gemeistert. Das ziemlich morsche Gestein und das heikle Gelände bremsten uns dann etwas ein. Nichtsdestotrotz fanden wir immer wieder pas-
sable Hooks und auch mobile Sicherungsmöglichkeiten. Vor der Ausstiegsseillänge konnten wir einen recht komfortablen Standplatz einrichten. Da der Ausstiegszapfen ziemlich delikat wirkte, entschieden wir uns für die Absicherungsmöglichkeiten im felsigen Teil. Wir schlugen zwei Normalhaken in den steilen Fels und kletterten über den
Zapfen zum Ende der Route.
Nachdem wir auch die letzte Seillänge eingerichtet und das brüchige Gestein zufriedenstellend geputzt hatten, kletterten wir diese auch noch Rotpunkt. Die Kombination aus reinen genussvollen Eislängen, steilem Fels und diesem Zapfen machen die Route „Dogma” zu einer attraktiven und reizvollen Linie – abgesehen von der Tatsache, dass es nur sehr kurze Zeitfenster gibt, um sie unter akzeptablen Bedingungen zu klettern. Den Wiederholern wünschen wir viel Spaß, das richtige Timing und gute Bedingungen.
Erstbegeher: Simon Gietl und Mark Oberlechner am 29. 1. 2021
Charakter: Wunderschöne Mix-Tour, die leider nur selten möglich ist. Die Einstiegsseillänge und die darauffolgenden sind reine Eislängen, die zweite ist etwas anspruchsvoller als die erste. Die Dritte bietet Mixed-Gelände im VII. Grad und einen Eisausstieg entlang eines steilen Zapfens. Die letzte Länge ist die schwierigste und steilste der Route. Zunächst klettert man im überhängenden Felsteil zum steilen markanten Ausstiegsvorhang, der sachtes und überlegtes Klettern verlangt. Dieser Zapfen bildet das Herzstück und unterstreicht die Steilheit der Route.
Material/Absicherung: Ein Satz Friends bis 3. Bis auf zwei Normalhaken wurde kein weiteres fixes Material verwendet oder belassen, der Rest wurde mobil abgesichert.
Abstieg: Abseilen
Topo: www.simongietl.it
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Heiligkreuzkofel-Mittelpfeiler & Große Mauer, 2.907 m
Erste Winter-Solo-Begehung durch Simon Gietl
Der Südtiroler Alpinist realisierte diese Extremtour am 25. Februar 2021. Erstbegangen wurde der Pfeiler von den Brüdern Reinhold und Günther Messner. Dem österreichischen Extremkletterer Beat Kammerlander gelang im Sommer 1981 die erste Solo-Begehung der Mariacher-Variante. Simon Gietl stieg um 6 Uhr morgens beim Original-Einstieg ein, der aufgrund der schlechten Felsqualität eher selten geklettert wird. Im unteren Teil traf er auf viel Schnee, der sich jedoch gut gesetzt hatte. Die Temperatur passte auch. Lediglich der Wind stemmte sich ihm entgegen – was die Tour zusätzlich nicht ganz einfach machte. Auch Gietl kletterte die Mariacher-Variante und erreichte schon kurz vor 14 Uhr den Ausstieg. „Eigentlich hatte ich ein Biwak mit eingeplant“, so Simon. Dementsprechend überrascht sei er gewesen, als er nach acht Stunden oben „überglücklich und tiefst zufrieden“ in der Sonne saß, die ihm den ganzen Tag während der Tour abgegangen sei. „Ich fühlte mich den ganzen Tag verstanden und auf dem richtigen Ort, als wäre ich zuhause.“
Eine Woche danach, am 4. März, durchstieg Simon Gietl die „Große Mauer“ an der Heiligkreuzkofel Westwand, die 1969 von Reinhold Messner und Hans Frisch eröffnet wurde. Statt Biwakausrüstung hatte er einen leichten Gleitschirm dabei, mit dem ging es nach vierstündiger Kletterei wieder zurück ins Tal. „Die Kombination einer Solo-Tour mit Paragliding war für mich eine großartige Premiere.„
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Cima Scotoni „Can you hear me”,
Erste Rotpunktbegehung durch Erstbegeher Simon Gietl
Nach der Solo-Erstbegehung im Sommer 2018 hielten mich die Gedanken an die freie Rotpunktbegehung ständig in Atem. Die steile Linie und das Vorhaben, sie an einem Tag
sturzfrei zu klettern, gruben sich so tief in meinen Kopf, dass ich schon im Herbst 2018 glaubte, wenn ich top motiviert und fokussiert an die Besteigung heranginge, die Route auch frei schaffen könnte. Was ich damals allerdings noch nicht wusste war, dass sich die schwersten Stellen der Tour im zehnten Schwierigkeitsgrad bewegen. Ich benötigte also nicht nur eine riesige Portion an Motivation, sondern auch viel Geduld und Zeit, um die notwendige körperliche Fitness zu konditionieren. Insbesondere in der sechsten Seillänge muss man physisch in der Lage sein, die schweren Züge so zu kontrollieren, dass das mentale Kartenhaus nicht zusammenfällt. Denn so wie die zwingend notwendige Körperspannung, müssen auch Moral und mentale Belastung der heiklen Situation gerecht werden.
Beim ersten Auschecken der einzelnen Seillängen musste ich einsehen, dass das viele Radfahren für das North3 Bike & Climb Projekt (mit Vittorio Messini; 7.300 Meter, 3 Nord-
wände: Ortler, Gr. Zinne, Großglockner; den Weg dazwischen per Bike, Gesamtzeit 48 Stunden) im Frühjahr 2018 seine Spuren hinterlassen hatte. Die allgemeine körperliche Verfassung war auf einem sehr guten Fitnesslevel, die erforderliche Fingerkraft und die Maximal- und Rumpfkraft dagegen schienen wie aufgelöst zu sein. Die vielen Trainingskilometer auf dem Rennrad hatten unweigerlich ihren Tribut verlangt. Geknickt, aber dennoch nicht demotiviert, ließ mich die Route im Sommer 2018 abblitzen. Mit dem Gedanken, dass es irgendwann mit der „Can you hear me“ klappen würde, brach ich wie geplant im Spätsommer 2018 mit Thomas Huber nach Pakistan auf.
Auch im darauffolgenden Jahr sollte die Zeit noch nicht ganz reif sein. Wettertechnisch gesehen, waren der Frühling und die ersten Wochen des Sommers mehr als suboptimal für die steile Südwestwand. Kühle Temperaturen, heftiger Regen und nur kurze Schönwetterperioden verhinderten, dass der linke Teil der Scotoni-Wand abtrocknen konnte. Da eine weitere Expedition nach Pakistan für Ende Juli geplant war, merkte ich ziemlich rasch, dass die Zeit knapp wurde. Dennoch stieg ich in die Route ein und versuchte, das Rätsel der sechsten Seillänge zu lösen. Der auffallende Dachgürtel im unteren Drittel der Wand ließ mich ein weiteres Mal abblitzen. Einsichtig, aber mit dem Wissen, dass ich die Route nach gezieltem Training schaffen könnte, traten wir den Rückzug an.
Die freie Begehung der Route wurde 2020 mein zentrales Jahresprojekt. Nach vielen Saisonen mit wechselnder Trainingsplanung konzentrierte ich mich bereits Anfang des Jahres spezifisch auf den notwendigen Aufbau der Kraftausdauer, die für den erfolgreichen Durchstieg der gesamten Route Voraussetzung ist. Hinzu kam, dass ein Projekt in Brasilien, das ich mit Araon Durogati, einem Kollegen aus dem SALEWA-Athletenteam, geplant hatte, wegen Corona nicht stattfinden konnte. Insofern blieb nun noch mehr Zeit, sich voll und ganz dem Projekt an der Scotoni-Wand zu widmen.
Meine Motivation und Konzentration richtete ich ab diesem Zeitpunkt nur noch auf diese Besteigung. Neben dem sorgfältigen und systematischen Trainingsaufbau war der ideale Seilpartner für diese heikle Route ebenso wichtig. Die Route verlangt nämlich auch im Nachstieg gestählte Nerven und das technische Know How, um eventuelle, verzwickte Seilmanöver durchzuführen. Mit meinem Bergführer-Kollegen Andrea Oberbacher hatte ich den berufenen Seilpartner gefunden. Mich überzeugten auch seine Ambitionen und seine positive Herangehensweise an das Projekt. In ernsten Situationen und in heiklen Momenten kann die Einstellung entscheidende Auswirkungen haben.
Optimistisch und voller Tatendrang ging es also ein weiteres Mal zur Scotoni-Wand. Im Fokus stand, wie bereits dievorigen Male, die Schlüsselsequenz in der sechsten Seillänge. Ständig fragte ich mich, ob sich das straffe und zielbewusste Training ausgezahlt hätte. In voller Erwartung, endlich die Finger an die kleinen Leisten zu pressen, stiegen wir zum Wandfuß empor. Bis zum Stand unter dem ausladenden Dach der sechsten Länge waren wir schnell unterwegs. Die acht Züge, die zunächst an ein Wirrwarr aus vielen Puzzleteile erinnerten, galt es nun geduldig und ohne Hektik aneinander zu reihen, um daraus eine möglichst sichere und logische Griff-und Trittkombination zu formen. Bei jedem Versuch verfeinerte ich die Griffabfolge und diedazugehörenden Trittbelastungen soweit, bis ich endlich eine brauchbare Sequenz zusammengebastelt hatte. Das Rätsel schien zunächst gelöst zu sein und ich freute mich ungemein darüber, da es mich beinahe schon zwei Jahre beschäftigte. Außerdem kletterte ich noch alle anderen Teilabschnitte, um mir die heikelsten Stellen nochmals anzuschauen und zu verinnerlichen. Den letzten und oberen Teil der Route nahm ich mit Jakob Steinkasserer unter die Lupe. Der junge und ambitionierte Kletterer aus Antholz war auf Anhieb von der Ausgesetztheit und Steilheit der Route fasziniert.
Ich wollte alle Seillängen sturzfrei an einem Tag aneinanderreihen. Am Samstag, den 15. August 2020, war es endlich soweit. Die Bedingungen waren vorzüglich. Obwohl Andrea als Bergführer Mitte August in Dauerstress war, fand er Zeit, um mich an der Scotoni-Wand zu begleiten. Da wir bereits ahnten, dass es ein langer Tag werden würde, stiegen wir überaus zeitig zum Wandfuß auf und verzichteten auf den obligatorischen Café auf der Scotoni Hütte. Aber bereits in der dritten Seillänge sollte mein Nervenkostüm den ersten Dämpfer erfahren. Eine sehr delikate und heikle kaminartige Schuppe ließ kein flüssiges Klettern zu. Mehr Schinden als Klettern war angesagt. Neben einigen verzwickten Kletterbewegungen machten auch die mageren Absiche-rungsmöglichkeiten die numerisch nicht allzu schwere Seillänge zu einer sehr kurz-weiligen Angelegenheit. Unser anfänglicher Optimismus schwand zunehmend. Die kör-perliche und mentale Tagesform schien den perfekten äußerlichen Bedingungen nicht gerecht zu werden. In der darauffolgenden Seillänge spitzte sich die prekäre Situation noch zu. Sie verlangt sicheres Klettern im neunten Grad in ziemlich delikatem Gelände, also kein optimales Sturzgelände. Weite Abstände, gewagte Bewegungsabläufe und zweifelhaftes Gestein machen diese Seillänge zum ersten großen Bewährungstest.
Einige Male entglitten mir die rutschigen und feuchten Griffe und nur mit viel Glück konnte ich den Körper kurz vor dem Wegkippen in eine stabile Position manövrieren. An der kritischsten Stelle dieser Seillänge schnappte ich nun von einem schlüpfrigen Griff hoch zur letztendlich entscheidenden Leiste. Als ich diesen Zug trotz Stress und voller Adrenalin schaffte, war mir klar, dieses Glück kann jetzt bestimmend und wegweisend für den Rest der Route sein. Vielleicht war es auch das Wissen, dass perfekte Bedin-gungen herrschten und mein Seilpartner Andrea sich während des Höhepunktes der Feriensaison Zeit genommen hatte, es also demnach nur an mir scheitern konnte.
Am Standplatz merkte ich, welch großen Druck ich mir selbst auferlegt hatte. Bevor sich negative Gedanken breit machen konnten und eine sich daraus entwickelnde Spirale meine Kletterbewegungen womöglich sogar bremste, versuchte ich mich taktisch abzulenken. Um mich mental und moralisch zu beruhigen, putzte ich nochmals sorg-fältig die Griffe der folgenden Schlüsselseillänge. Außerdem testete ich ein wiederholtes Mal die schwersten Griffabfolgen. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass der Moment ge-kommen war, die schwierige Seillänge Rotpunkt in Angriff zu nehmen.
Ich startete den alles entscheidenden Go gegen halb zwölf. Der Erfolgsdruck und die lähmenden Kletterbewegungen schienen wie weggeblasen zu sein. Auf einmal fühlte ich das erste Mal an diesem 15. August einen Hauch von Leichtigkeit und Flow. Nachdem ich die ersten Griffe im richtigen Timing anschnappen und halten konnte, wichen Unsicherheit und Hektik. Verhältnismäßig stabil konnte ich die letzten alles entscheidenden Züge am weit ausladenden Dach durchziehen und den rettenden Henkel zuschrauben. Nun wusste ich, dass mich diese Seillänge nicht mehr abwerfen würde. Die weitaus schwierigste und kraftraubendste Stelle war in freier Kletterei geknackt. Euphorisch kletterte ich bis zum Standplatz. Ein lautstarkes „Stand!!!“ signalisierte Andrea, dass er sich rasch für den Nachstieg bereit machen sollte. Während er nachstieg, kauerte ich mich hin zum Kräftedreieck am Stand und legte meinen Kopf müde aber erleichtert auf das bleiche Dolomitgestein. Für Minuten in dieser Position verharrend richtete ich einige Gedanken an meinen Freund Gerry. Ich war sicher, dass er uns nicht nur zuschaute, sondern auch in den wesentlichen Momenten eine mentale Stütze war. Nach der siebten Seillänge gratulierte mir Andrea am Standplatz zur freien Begehung. Uns beiden war allerdings auch klar, dass uns noch viele weitere, ziemlich heikle und teils auch sehr ernsthafte Seillängen bis zum Gipfel fehlten. 14 Seillängen, die keine großen Fehler oder Unachtsamkeit verzeihen würden. Wir durften auf keinen Fall unsere Konzentration und Spannung verlieren. Vom großen Erfolgsdruck befreit, gestalteten sich diese Seillängen aber nicht mehr so Nerven zermürbend wie die dritte und die sechste Seillänge. Wir konnten sie relativ problemlos abspulen und der Eintages-Rotpunktbegehung sollte nichts Nennenswertes mehr im Wege stehen. Der Druck wich der Gelassenheit und das zögerliche Klettern wurde von flowigen Bewegungsabläufen abgelöst. Kurz vor dem Gipfelausstieg schaute ich auf die Uhr. Zeitlich noch im grünen Bereich nahm ich die letzte Seillänge in Angriff. Unsere große Freude mischte sich mit einer großen Dosis Demut zu einer speziellen Mixtur. Die Freude es nun endlich rotpunkt geschafft zu haben und die Erkenntnis, damit nun den Schlussstrich unter ein großes Projekt zu ziehen, das mich über mehrere Jahre innigst beschäftigt hatte, fühlten sich ziemlich widersprüchlich an.
Als wir dann am Ausstieg saßen und uns zufrieden umarmen konnten, waren unsere Gedanken auch wieder bei Gerry und ich schenkte ihm diesen speziellen Moment am Gipfel. Er war mein Freund, Seilpartner und Ideengeber dieser Linie, die er selber leider nicht mehr klettern konnte. Es herrschte eine andere Stimmung als üblicherweise nach einer erfolgreichen Kletterei. Ohne viel zu reden, genossen wir noch für einige Minuten den eindrucksvollen Weitblick und versprachen Gerry, dass er uns stets in Erinnerung bleiben würde. Seine Art, sein Lächeln und sein Wesen sollen mit dieser Linie an der Scotoni-Wand, die er vor einigen Jahren in seinem Kopf bereits gezeichnet hatte, lebendig bleiben. Die Antwort auf diese Route lautet Ja und wir waren sicher, dass uns Gerry hören konnte.